#StänderatMichel – Politik und Anekdoten in ausserordentlicher Lage

Ursprünglich als «Sondersession» geplant, wird die erste Mai-Woche zur «ausserordentlichen Session», die sich ausschliesslich mit Vorlagen im Zusammenhang mit der Corona-Krise befasst. Kurz zusammengefasst hat das Parlament die Corona-Kredite des Bundesrates und den Einsatz der Armee gutgeheissen. Für Kindestagestätten, Medien, öffentlicher Verkehr und die Reisebranche wurden weitere unterstützende Massnahmen genehmigt. Das alles lässt sich den Medien entnehmen. Ich gebe Ihnen nachfolgend einige persönliche Einblicke.

Ausserordentliche Ausgangslage

Nicht nur Staat, Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt, sondern jede und jeder einzelne ist in der Krise besonders gefordert. Für die Arbeit von National- und Ständeräten ist dies die erhöhte Flexibilität im Umgang mit Ort, Sitzungsorganisation und Arbeitsinstrumenten; hier erwarte ich auch von uns Parlamentsmitgliedern diejenige sportliche und flexible Haltung, die praktisch alle Berufstätigen und Familienverantwortlichen in diesen Zeiten beweisen müssen.

Doch die wirklichen Herausforderungen sind inhaltlicher Art: Inwieweit soll der Staat das Überleben von Branchen und Betrieben sichern? Wer ist alles systemrelevant? Sind Tourismusunternehmen bedeutender als die Kindertagesstätten? Wie viel zusätzlichen Staat braucht es in solchen Situationen und wie lange? Wie viel sollen wir korrigieren von dem, was der Bundesrat notgedrungen entschieden und vorgespurt hat? Zu solchen und ähnlichen Fragen erhalten wir Parlamentsmitglieder täglich Mails mit Ansichten und Begehren.

Persönliche Haltung

Vor diesen Fragen und oft auch Zielkonflikten versuche ich, eine Haltung zu finden. Natürlich hilft der liberale Kompass, doch gehen die Meinungen bei gewissen Fragen quer durch die sonstigen ideologischen Positionen und die Fraktionen hindurch. Meine Haltung in den diversen Abstimmungen:

  • Ja zu Liquiditätssicherung mit staatlich verbürgten Krediten, Nein zu à-fonds-perdu-Beiträgen
  • Ja zu staatlichen Begleitmassnahmen, Nein zu Eingriff in privatrechtliche Vertragsverhältnisse (z.B. im Mietrecht)
  • Ja zu Bundesmassnahmen subsidiär zu den Kantonen (z.B. Unterstützung von Kindestagesstätten), Nein zu neuen Bundeskompetenzen
  • Ja zum verstärkten Einsatz bestehender Instrumente (Arbeitslosenversicherung, Erwerbsersatzordnung), Nein zu sachfremden Verknüpfungen (z.B. Nein zum Dividendenverbot bei Kurzarbeit)
  • Ja zu Notrecht, wo es zeitlich dringend ist, Nein zu grundsätzlichen Weichenstellungen, welche im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erarbeitet werden können (z.B. zusätzliche Umweltauflagen im Flugverkehr).

Sitzung open end

Aus den Programmen des Nationalrates weiss ich, dass es dort Sitzungen ohne voraus definiertes Ende («open end») gibt. Der Ständerat erlebt dies nun zum ersten Mal; auch diesbezüglich ausserordentlich. Am ersten Tag der ausserordentlichen Session beginnen wir um 14 Uhr und ich rechne mit einem Ende gegen 20 Uhr. Da aber bereits die Eingangsdebatte zur Corona-Krise mit 20 Rednerinnen und Rednern fast vier Stunden dauert, wird es ein nicht absehbares und sicher nächtliches Ende. Das veranlasst den Ständeratspräsidenten, Hans Stöckli, zur Aussage: «Wenn wir schon wieder mal tagen, dann tagen wir lange.»

Mehr Wissenschaft in Krisenlagen

Generell sollten politische Entscheidungen fakten- und wissenschaftsbasiert sein. Gerade in der Schweiz kennen wir eine hervorragende Forschungs- und Wissenschaftslandschaft. Diese sollten wir verstärkt nutzbar machen. Krisenlagen erfordern schnelle Entscheidungen, welche sich auf ein bestehendes interdisziplinäres Wissenschaftsnetzwerk abstützen können. Bisher gibt es das nicht. Es ist mein Vorschlag bzw. meine zukunftsgerichtete Forderung im eingereichten Postulat «Wissenschaftliches Potenzial für Krisenzeiten nutzen». Aus der FDP kommt ein ganzes Paket von Vorstössen für Innovation und verstärkte Vernetzung und Widerstandskraft.

Wir stehen dazu

Wie werden Abstimmungsergebnisse des Parlaments bekannt und publik gemacht? Und wie ist erkennbar, wie jedes Parlamentsmitglied abgestimmt hat? Im Ständerat gibt es seit 2014 ein elektronisches Abstimmungssystem; auf dem Bildschirm (im Bundeshaus) wird klar, wer wie abgestimmt hat. Nun, in der ausserordentlichen Session ist in den BEA-Ausstellunghallen der Ständeratssaal einigermassen nachgebildet, die Abstimmungsergebnisse können aber nicht am Bildschirm erscheinen. Gibt es nun schriftliche Abstimmungslisten nach jeder Abstimmung oder stehen wir zur Stimmabgabe auf? Die Mehrheit bestimmt eine Lösung, welche aus dem letzten Jahrhundert zu stammen scheint, aber in besonderen Lagen halt funktioniert: «Die Stimmabgabe erfolgt durch Aufstehen.»  (Art. 44 des Geschäftsreglements).

Keine Zeit für Parteiengezänk?

In den ersten Wochen der Corona-Krise schlossen sich die Reihen, auch parteipolitisch. Es gab schlichtweg keinen Raum für ein Parteiengezänk. Eine alte Weisheit: Zur Abwehr eines gemeinsamen Feindes, hier des Virus, steht man zusammen. Dass dieses Zusammenstehen auch weiterhin nötig wäre, brachte Bundesrat Ueli Mauer in seinem Eintretensvotum zu den Covid-Krediten zum Ausdruck: Wir würden auch in nächster Zeit einen hohen Grad an Committment brauchen und ein grosse Parteigezänk werde es nicht ertragen. Ob dies frommer Wunsch bleibt? Bei gewissen Themen flackerten ideologische Grabenkämpfe schon wieder auf.

Ist das Parlament krisenfest?

Alle Notmassnahme des Bundesrates stützten sich auf (demokratisch legitimiertes) Verfassungs- und Gesetzesrecht (auch Notrecht ist Recht). Gleichwohl soll ein solcher Zustand möglichst kurz dauern. Die begleitenden Kommissionen und dann auch das Parlament brauchten eine gewisse Anlaufzeit, schon um nur technisch unter den erschwerten Bedingungen tagen zu können. Da ich selber von Beginn weg ausschliesslich digital arbeite und ohne Papiervorlagen auskomme, war ich schnell einsatzfähig. Doch das ganze System braucht noch einen Digitalisierungsschub.

Abgesehen von der Technik braucht unser Schweizer Gesetzgebungssystem mit zwei Kammern und unter Einbezug von Kantonen und weiteren Akteuren aber seine Zeit. Gerade komplexe und föderal geregelte Bereiche lassen sich nicht im Schnellverfahren lösen.

Die gemachten Erfahrungen werden uns auch neue Lösungen finden lassen, welche einerseits ein sorgfältiges Vorgehen, andererseits ein flexibleres parlamentarisches Handeln ermöglichen.

 

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