Hat (christliche) Ethik in der Politik Platz?

Die City Kirche Zug lädt regelmässig Gastprediger resp. -predigerinnen ein. In diesem Jahr gehört die Kanzel dem Zuger Ständerat Matthias Michel. Er schreibt: «Als Gläubiger und als Politiker befasse ich mich mit Werten: Der Glaube – sowohl der christliche als auch ein anderer – beinhaltet Werte. Unser Staatswesen beruht auf Grundwerten, die in der Verfassung und in Gesetzen zum Ausdruck kommen. Wie sehe ich dieses Spannungsverhältnis zwischen Glauben und Recht?»

Ich bin zu einer Predigt gebeten in der City Kirche. Predigen? Ich masse mir das eigentlich nicht an. Eine Predigt halten kann ein Schriftgelehrter, eine Theologin – sie verkünden nicht nur das Bibelwort, sondern legen es auch aus. Das masse ich mir nicht an. Umgekehrt ist auf der politischen Bühne ein Prediger nicht gern gesehen; man verbindet damit einen, der von der Kanzel herab moralisierende Predigten hält.

Damit sind wir schon fast beim Thema: Hat Ethik in der Politik Platz?

Meine heutigen Worte verstehe ich also nicht als Predigt, sondern eher als Reflexion. Eine Reflexion, zu der ich von Ihnen, von Pfarrer Hansjörg Riwar im Rahmen diese ökumenischen Gottesdienstes eingeladen worden bin. Und diese Gedanken teile ich jetzt mit Ihnen. Es sind Gedanken sicher eines Politikers, dann aber auch solche eines «normalen» Bürgers, der wie Sie von Leistungen des Staates abhängt, dafür Steuern zahlt und an der Urne seine Meinung  abgibt. Dann Gedanken eines Ehemanns und  eines Familienmenschen. Und  auch eines gläubigen Menschen. In diesen verschiedenen Eigenschaften haben wir verschiedene Perspektiven. Und da kann es schon dann und wann mal vorkommen, dass man in ein Abwägen kommt, in einen Interessenkonflikt, um nicht zu sagen in ein Dilemma: Meine Meinung als Familienmensch muss nicht unbedingt dieselbe sein wie diejenige als Steuerzahler. Gerade auch als gläubiger Mensch einerseits und als praktizierender Politiker andererseits suche ich bei solchen Dilemmata Orientierung. Diese finden wir – oder hoffen sie zu finden – in den Grundordnungen unseres Staats bzw. unseres Glaubens. Für unser Land, für uns als Staatsbürgerinnen und -bürger, ist das die Bundesverfassung; für uns als Christen und Christinnen die Bibel.

Unsere Verfassung, also die Grundordnung unseres weltlichen Staates, beginnt ja bekanntlich mit den Worten: «Im Namen Gottes des Allmächtigen». Unsere Staatsgründer im Jahr 1848 haben sich also auf Gott berufen und sich damit unter seinen Schutz gestellt. Für mich ist das Ausdruck der Überzeugung, dass der Staat eben nicht zuerst ist und auch nicht das Ende sein wird; er erhebt sich nicht über das Göttliche, im Gegenteil. Damit ist schon ein Erstes zu Ethik und Politik bzw. das von der Politik gesetzte Recht gesagt: Die Ethik steht vor und über dem Recht; sie entzieht sich der politischen Ausmarchung.

Und dann folgen in der Präambel unserer Verfassung Bekenntnisse wie: «in Verantwortung gegenüber der Schöpfung und den künftigen Generationen», und «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Also alles hohe Werte – Ethik pur, könnte man sagen. Und das alles in einem weltlichen Regelwerk. Im Folgenden beschreibt ja die Verfassung die Staatsordnung und dann die wesentlichen Rechte und Pflichten, die dann auch verbindlich sind. Interessant wird es wieder bei den sogenannten Sozialzielen in Art. 41 der Verfassung. Hier steht, dass sich Bund und Kantone zum Beispiel dafür einsetzen, dass «jede Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege erhält» und dass «die Familien als Gemeinschaften von Erwachsenen und Kindern geschützt und gefördert werden» und vieles mehr.  Also auch hier: es ist ein ganzer Katalog von hohen, übergeordneten Grund-sätzen und Werten. Wie geht nun die Verfassung selber damit um? Wird hier Ethik zu Recht? Ist somit Ethik staatlich verbindlich und rechtlich einforderbar? Damit würde sie sich auf die Ebene des Rechts begeben und wäre damit Spielball der Politik

Nein, es ist eben nicht ganz so: Im selben Artikel, nach all diese Sozialzielen steht: «Aus den Sozialzielen können keine unmittelbaren Ansprüche auf staatliche Leistungen abgeleitet werden.» Es sind eben keine Ansprüche von Menschen oder Verpflichtungen des Staates, sondern einfach Ziele.

Ja, wie steht es denn mit dem Charakter bzw. der Bedeutung eines solche Ethikkanons gegenüber dem staatlichen, verbindlichen Recht? Und dieses Recht ist ja der Hauptgegenstand der Politik: In und durch die Politik wird Recht gesetzt, werden Regeln definiert Ich meine, es gibt drei Dimensionen, in denen sich Ethik und Recht unterscheiden:

Erstens: Die zeitliche Dimension: ethische Grundsätze sind kaum je befristet und im Grunde nicht abänderbar oder nicht verhandelbar. Ganz anders das Recht: Gesetze werden dauernd geändert, sie unterliegen dem Zeitgeist.

Zweitens: Die Dimension der geografischen Geltung: Gesetze sind in der Regel national; ethische Grundsätze beanspruchen globale Geltung.

Und dann drittens die Dimension des Inhalts: Ethische Grundsätze sind oft Verhaltensgebote. Das Recht formuliert zwar auch Verhaltensregeln, aber es sind oft Minimalvorschriften, also: an was muss man sich gerade noch halten, damit das Zusammenleben erträglich ist. Oder es sind Verbote: Das Strafrecht sagt, was man nicht tun darf (z.B. Körperverletzung). Ethisch geht es viel weiter: Gerade die christlichen Glaubenssätze und das Vorleben von Jesus gebieten ein Maximum: denken Sie an die gebotene Liebe zu den Feinden. Und es sind eher Gebote als Verbote.

Diese Ethik unterscheidet sich also massgebend vom Recht, das der staatliche Gesetzgeber setzt. Dass die Ethik gleichwohl Platz hat im Staat, in der Politik zeigen die Beispiele der Sozialziele. Also Werte, die der Staat auch anstrebt, für welche er sich einzusetzen hat, auch wenn deren Erfüllung nicht einklagbar ist.

Ja, was sagt denn nun die Bibel zum Verhältnis von Ethik und Politik bzw. Recht? Oft wird hier das Wort erwähnt, das Jesus gesagt haben soll, als man ihn fragte, ob es richtig sei, Steuern zu zahlen. Er sagte beim Anblick eine Münze, die das Abbild des Kaiser zeigte: «So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört!» (Matthäus 22, 19-21). Ich möchte hier nicht zu stark interpretieren, aber es wird gesagt, darin sei das Gebot der Trennung von Staat und Kirche gemeint. Aus vielen Predigten, die ich dazu gelesen habe, kommt aber etwas Differenzierteres heraus: «Wenn Jesus sagt: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, dann heisst dies also auch: Tragt mit eurer Steuer zum Wohl der Gemeinschaft bei» (aus einer Predigt in Einsiedeln, 11.9.16, Autor unbekannt). Oder nach den Worten von Prof. Dietz Lange: «Dem Staat gehört das Geld, das er in Umlauf bringt, aber nicht die Menschen. Denn das Kaiserbild steht nur auf dem Geld. Wir Menschen aber sind Ebenbilder Gottes, so sagt es die Schöpfungsgeschichte. Wir Menschen gehören Gott. Wir müssen Gott mehr gehorchen als den Menschen.» (Göttinger Predigten im Internet, 2.11.97).

Ich meine, beides hat Platz: Kaiser und Gott, Staat und Kirche, Recht und Glaube, Ethik und Politik. Und oft leben wir auch das Miteinander, wir als Gläubige und Staatsbürger, aber auch Kirche und Staat: So bedienen sich unsere Landeskirchen des Staates, wenn es darum geht, ihre Kirchensteuern einzuziehen. Und der Staat bedient sich der Kirchen, wenn es um die Vereidigung geht, die wir in Zug jeweils nach den Gesamterneuerungswahlen in der St. Oswalds-Kirche abhalten . Oder wenn es um die Segnung bedeutender Bauwerke, wie zum Beispiel des Gotthard-Basistunnels geht.

Ich habe Ihnen noch ein konkretes Beispiel, wie diese Ergänzung, dieses Miteinander spielen kann, ohne das Recht und Ethik gegeneinander ausgespielt werden. Und ein Beispiel, das zeigt, das Ethik eben nicht automatisch Recht ist, ja nicht Recht sein soll. Das Zitat stammt aus einer Debatte im Zuger Kantonsrat vor zehn Jahren. Es ging damals darum, wie der Kanton Zug, wie die Regierung sich gegenüber den in Zug ansässigen Rohstoffunternehmen verhält. Zum Abschluss der Beratung, bei welcher ich die Haltung des Regierungsrates vertrat, sagte ich:
«Es wird immer wieder gefordert, auch der Staat solle von einzelnen Branchen oder generell von der Wirtschaft ethisches oder moralisches Verhalten verlangen. Vor gut einem Jahr hat der Regierungsrat bei der Beantwortung einer anderen Interpellation klipp und klar gesagt, was er erwartet . Er erwartet von den Unternehmen die Einhaltung der internationalen Standards, der Menschenrechte und Umweltnormen; er erwartet einen anständigen Dialog mit der Bevölkerung vor Ort und bei Konflikten eine gewaltfreie Konfliktlösung. Das sind klare Erwartungen. Erwartet man darüber hinaus die Einhaltung ethischer Normen, die über die Gesetzgebung, über die Menschenrechte, über international verankerte Standards hinausgehen, kommt man in einen Bereich, welcher die staatlichen Normen übersteigt. Da muss die Gesellschaft den Finger darauflegen, weshalb es richtig ist, dass kritische Organisationen wie die «Erklärung von Bern» oder das Fastenopfer diese Themen aufnehmen und dabei auch Massstäbe anlegen, welche die staatlichen und internationalen rechtlich verbindlichen Massstäbe übersteigen. Wollte aber der Staat ethische Regeln fixieren, die zudem je nach Ort, Geschichte oder Mentalität einzeln zu definieren wären, dann gäbe es keinen Raum mehr für gesellschaftlich individuelle Ethik. Das aber würde zum totalitären Staat führen, den alle hier ablehnen.» (Regierungsrat Matthias Michel, Protokoll Kantonsrat Zug vom 7. Nov. 2012 zur Interpellation der SP-Fraktion betreffend Massnahmen gegen Missstände in der Rohstoffbranche, Vorlage Nr. 2246.1 – 14321).

Zum Abschluss noch ein persönliches Wort. Als liberal denkender Politiker gehe ich davon aus, dass der Staat nur beschränkt regelt, er muss eine minimale, aber keine maximale Gesellschaftsordnung vorgeben. Gleichzeitig – als Pendant, als Gegenstück – ruft dieser Staat uns auf, unsere persönliche Verantwortung wahrzunehmen. Das kommt in einem kaum bekannten Artikel in unserer Bundesverfassung zum Ausdruck: «Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.» (Art. 6 BV Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung). Um diese meine Verantwortung für mich, meine Familie und für die Gesellschaft wahrnehmen zu können, brauche ich Orientierung, Werte. Bei mir und uns gibt die christliche Ethik, der christliche Glaube diese Wertorientierung. Gerade als liberal denkender Staatsbürger brauche ich, weil mir der Staat eben nicht alles regelt und vorgeben soll, eine solche Orientierung. Und Glaube,  weil der Staat eben nicht Anfang und nicht Ende ist. Gerade auch deshalb  hat Ethik Platz. Und ist mein Glaube für mich lebenswichtig.