#StänderatMichel – Politik und Anekdoten

Das Parlament bewegt sich zwischen der Bewältigung der jüngsten Vergangenheit (Dutzende von Vorstössen zu Covid) und Weichenstellungen für die Zukunft (Stabilisierung der AHV, neue unterirdische Güterinfrastruktur). Letzteres, die strategisch vorausschauende Politik, ist eigentlich die wichtigste Aufgabe, der wir uns zum Glück nach den sehr kurzfristig getakteten Monaten des Corona-Jahres wieder vermehrt zuwenden können.

Samstagsgespräch

Am Samstag, 19. Juni von 11 – 12 Uhr lade ich ein zum digitalen Samstagsgespräch mit Aktuellem und Anekdoten aus der Session. Im Online-Meeting berichte ich von den Geschäften, Abstimmungen und Ereignissen. Danach ist das Samstagsgespräch auch offen für Fragen und Diskussionen unter den Teilnehmenden. Das Gespräch findet Online statt. Hier findet sich der Link dazu.

«Cargo sous terrain» – unterirdische Vision

Die Sommersession startete schon fast euphorisch: Die Rede war von Meilenstein, von innovativem Lösungsvorschlag, von Vision und Entscheidungsfreude. Nach dem Gotthardtunnel von 1882 und dem neuen NEAT-Basistunnel steht eine weitere Pionierleistung an: der vollumfänglich unterirdische Gütertransport mit dem Namen «Cargo sous terrain». Es ist eine privat finanzierte Innovation. Der Staat definiert die Rahmenbedingungen. Der Ständerat unterstützt das Unterfangen einstimmig und staunt über den unternehmerischen Mut. Aus dem Votum meines Ständeratskollegen Pirmin Bischof: «Irgendwie widersprechen diese Grossprojekte uns Schweizerinnen und Schweizern. Wir sind nicht diejenigen, die neue Städte in den Urwald bauen oder in unserer Hauptstadt einen Eiffelturm errichten.»

Covid kostet

Wurde früher um Millionen debattiert, sind es nun Milliarden. Der Bund geht bis heute von einer maximalen Belastung von rund 40 Milliarden Franken aus, für die er für die Jahre 2020/21 auch bewilligte Kredite hat. Um das ins Verhältnis zu setzen zu den Gesamtausgaben eines Kalenderjahres: Es entspricht rund den Bundesausgaben für ein halbes Jahr. Dies als Faustregel, denn, wie es Finanzminister Ueli Maurer formulierte: «Man verliert ja gerne etwas die Übersicht bei diesen grossen Beträgen.» Damit man für die Zukunft mehr Sicherheit hat – und nicht einfach die Steuerzahler für Milliarden Franken an Stützungsmassnahmen aufkommen müssen, werden Lösungen für die Versicherung von Grossrisiken gesucht. Leider hat der Bundesrat ein zusammen mit der Versicherungswirtschaft entwickeltes Projekt vorzeitig abgebrochen, was mich in einer Interpellation zu kritischen Fragen veranlasst hat.

Stabilisierung der AHV – ohne Nationalbankgeld

Dass wir die AHV besser finanzieren müssen, ist unbestritten («AHV 21»). Nicht nur für mich, sondern auch für viele Frauen, mit denen ich rede, ist ebenso selbstverständlich, dass künftig für Frauen und Männer dasselbe Rentenalter 65 gelten soll, was das Parlament eben beschlossen hat. Was nicht sein kann, dass wir jetzt Gelder der Schweizer Nationalbank anzapfen – das wäre eine Scheinlösung und hilft der AHV langfristig nicht. Den Vorschlag der Nationalratsmehrheit, die Negativzinsen der Nationalbank in die AHV zu leiten, werde ich deshalb in der nächsten Runde im Ständerat bekämpfen. Die AHV muss aus sich heraus, das heisst über eine längere Erwerbstätigkeit der Versicherten, finanziert werden; befristet hilft noch die Mehrwertsteuer.

Standort Schweiz

Trotz dieser Milliardenbelastungen infolge der Corona-Krise verlieren wir nicht die Nerven. Einerseits haben wir eine funktionierende Schuldenbremse, die über mehrere Jahre hinweg Ein- und Ausgaben in Übereinstimmung bringt. Anderseits sind wir daran, mit verschiedenen Massnahmen die Schweiz fürs Wirtschaften einfach und attraktiv zu halten. So hat der Ständerat eine seit zehn Jahren eingefrorene Vorlage zur Abschaffung der Stempelsteuer endlich deblockiert. Es geht darum, dass die Emissionsabgabe für neugeschaffenes Eigenkapital abgeschafft wird, da sie die Bildung von Eigenkapital behindert. Kompliziert sind auch die verschiedenen Sätze und vielen Ausnahmen bei der Mehrwertsteuer. Eine FDP-Motion soll endlich den Einheitssatz für die Mehrwertsteuer wieder ermöglichen. Der physische Standort Schweiz brillierte anlässlich des Gipfeltreffens der Präsidenten Biden und Putin in Genf – und auch das jährliche World Economic Forum in Davos kann nach wie vor auf Unterstützung zählen. Beides sind gute Beispiele für die Stärke der Schweiz als Konferenzort und Sitzstaat internationaler Organisationen.

Standhafter Urgrossvater

Apropos Standort: Den besten Standort im Bundehaus haben «Die drei Eigenossen», die standhaften Schwörenden der ersten drei Kantone: Werner Stauffacher, Walter Fürst und Arnold von Melchthal. Der Bildhauer James Vibert hat dieses Werk vor mehr als 100 Jahren geschaffen. Kürzlich stand ich mit einer Genferin davor – und sie erzählte mir, dass der Stauffacher ihr Urgrossvater sei. Ich machte grosse Augen und sie berichtete, wie ihr Urgrossvater einer der Männer war, die dem Bildhauer Modell standen für diese Skulptur.

Steinige Beziehung zur EU

Bekanntlich hat der Bundesrat die Weiterverhandlung beziehungsweise den Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens mit der Europäischen Union (EU) gestoppt. Aufgrund der sich aufbauenden Blockaden von links (keinerlei Kompromissbereitschaft bei flankierenden Massnahmen) und von rechts (grundsätzliche Ablehnung von institutionellen Regeln) hatte der Bundesart schlichtweg keinen Spielraum mehr. Das ist zwar nachvollziehbar, aber bedauerlich. Der Bundesrat will nun mit einem politischen Dialog und dem Abbau möglicher rechtlichen Hindernisse die Beziehung zur EU gleichwohl pflegen. Aber eben legte ihm die Mehrheit des Ständerates mit einer Motion wieder einen Stein in diesen alternativen Weg: Damit Schweizer Helikopterpiloten bis 65 Jahre Personenflüge durchführen können und damit von der EU-Regel abweichen, machen wir genau das Gegenteil von dem, was der Bundesrat nun als Alternative verfolgt. Es dürfte zwar nur ein kleiner Stolperstein sein, aber auch viele kleine Steine verbauen den Weg. Somit heisst die Frage nicht mehr, welchen Preis die Schweiz mit einem institutionellen Abkommen bezahlt, sondern umgekehrt: Wie teuer wird es für die Schweiz, wenn wir Ausnahmen und Sonderregeln im Rahmen eines gemeinsamen Marktes beanspruchen?

Zuckerrübe für den Klimaschutz?

Auch unsere Schweizer Zuckerrübe ist von der EU-Politik betroffen: Infolge einer Liberalisierung der EU-Zuckerproduktion kam der Zuckerpreis unter Druck, was umgehend die Motion zur Sicherung der inländischen Zuckerwirtschaft zur Folge hatte. Immerhin deckt die Schweizer Produktion rund 70% unseres eigenen Bedarfs. In unserer Debatte kam die Zuckerrübe gut weg: sie erhöhe die Humusbildung und die Bodenfruchtbarkeit, binde CO2, setze umgekehrt Sauerstoff frei und wandle Sonnenenergie in Zucker um. Angesichts dieses Beitrages müsste die Klimabewegung eigentlich für die Zuckerrübe auf die Strasse gehen! Soweit kam es nicht, aber der Ständerat sprach sich für eine verstärkte staatliche Unterstützung der Schweizer Zuckerrübe aus.

Menschenrechte – nicht nur zu Corona-Zeiten

Auch in unserem Land erfolgen, wenn auch vergleichsweise massvoll, Einschränkungen von Grundrechten zur Bekämpfung der Pandemie. Entsprechend sensibilisiert sind wir wieder für unsere grundlegenden Rechte – und die meisten Demonstrationen wetterten gegen deren Einschränkung. Umso eigenartiger, wenn vor allem aus rechtsbürgerlichem Lager dann keine Unterstützung kommt für die unabhängige Menschenrechtsinstitution, welche die Schweiz nun definitiv schaffen will. Als Kommissionsprecher habe ich mich dafür eingesetzt – mit schliesslich klarer Zustimmung des Ständerates. Mein Schlusswort: «Insgesamt – wir wissen es, wir sind auch stolz darauf – ist die Schweiz wirtschaftlich und auch mit ihren guten Diensten aussenpolitisch, international als neutraler Staat bedeutsam. Wir erheben auch den Anspruch, in diesen Bereichen Standards zu setzen. Wir wollen Vorreiter und nicht Nachzügler im Bereich Demokratie, im Bereich Good Governance, im Bereich Menschenrechte sein.»

Maulkorb oder Bisswunde?

«Ständerat beschliesst Maulkorb-Artikel» titeln die Medien. Es geht um ein einziges Wort («besonders») bei der Revision der Zivilprozessordnung, das gewisse Medien auf die Palme bringt: Dass Medienleute eine spitze Feder führen, ist in Ordnung. Vereinzelt wird überbordet und es kommt zu Persönlichkeitsverletzungen, gegen welche man sich mittels eines vorläufigen gerichtlichen Stopps zurecht wehren darf. Nach Meinung des Ständerates soll es genügen, wenn der betroffenen Person ein «schwerer Nachteil» droht – er muss nicht noch «besonders schwer» sein. Bildhaft gesprochen: Wenn der Angriff eines bissigen Hundes droht, darf ich ihn nicht richterlich stoppen, selbst wenn er mir in den Fuss beisst («schwerer Nachteil»). Aber wenn er mir an die Gurgel springt («besonders schwerer Nachteil), dann verdient er einen Maulkorb. Die Debatte dreht sich um ein einziges Wort, aber schliesslich geht es um die Balance zwischen Persönlichkeitsschutz des Individuums und Medienfreiheit.

Lärm und Stille

Im vergangenen Jahr sorgten die sogenannten «Auto-Poser» für Lärm, der nun auch das Bundeshaus erreichte: National- und Ständerat überwiesen eine Motion gegen übermässigen Motorenlärm. Da nützte die Gegenwehr einer Minderheit nichts, die unter anderem eine Überreglementierung befürchtete: Sogar das Zuschlagen von Wagentüren, Motorhauben und Kofferraumdeckeln sei bereits heute geregelt und untersagt. Als Kontrapunkt: Der stillste Ort im Bundeshaus ist das Stillzimmer, derzeit rege nachgefragt: Allein im Ständerat sind drei Frauen in den vergangenen Monaten Mütter geworden.

Transparenz als Tugend

Nachdem in verschiedenen Kantonen erhöhte Vorschriften zur Offenlegung von Partei- und Wahlkampfspenden gelten, hat auch die Transparenzinitiative eine Chance. Nach einer ersten Ablehnung durch den Nationalrat kam ein wirkungsvoller Gegenvorschlag von Seiten des Ständerates: Ab einer Höhe von 15’000 Franken müssen Beiträge an Parteien und Komitees künftig offengelegt werden, bei Geldern für Abstimmungskampagnen gilt ein Schwellenwert von 50’000 Franken. In dieser Frage hat ein eigentlicher Mentalitätswandel stattgefunden: Was vor wenigen Jahren noch als Privatsache galt, muss nun öffentlich gemacht werden. Im ersten Moment noch gewöhnungsbedürftig, dürfte die neue Transparenz innert kurzer Zeit zur Selbstverständlichkeit werden. Vielleicht wird es sogar zur neuen Tugend zu zeigen, dass man als Privatperson oder Unternehmen zum Funktionieren unseres politischen Systems beiträgt!

Von göttlicher Ordnung und kalten Füssen

Zum Abschluss dieses Berichts noch etwas Swissness: Wer kennt sie nicht, die guten Schweizerfilme aus jüngerer Produktion: «Die göttliche Ordnung» über den Kampf ums Frauenstimmrecht oder die Serie «Frieden», basierend auf dem Aufenthalt von jugendlichen KZ-Überlebenden auf dem Zugerberg. Damit solche Schweizer Produktionen auch international Chancen haben, braucht es mehr Support. Was anderswo schon lang üblich ist, soll auch bei uns gelten: Online-Anbieter, insbesondere auch die ausländischen (wie zum Beispiel Netflix), sollen in die Schweizer Produktion investieren. Als Kommissionssprecher setzte ich mich für eine wirksame Förderung des Schweizer Film und gegen die vom Nationalrat beschlossenen Reduktionen bei der Investitionspflicht ein: «Man kann es auch bildlich betrachten. Wenn Sie in der Filmförderung die Decke mit Ausnahmen und Differenzierungen immer dünner werden lassen und die Stärke der Decke dann noch um die Hälfte reduzieren, dann bekommt man dort irgendwann kalte Füsse. Das wollen wir nicht.»

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